Kann die USA mehr Schulden tragen als Europa?
Mehrere EU-Länder liegen bereits über einer Schuldenquote von 100 % des BIP – ebenso wie die Vereinigten Staaten. Trotzdem behandeln die Märkte die US-Schulden ganz anders. Dieser Artikel erklärt warum.

Auf den ersten Blick sehen die Zahlen ähnlich aus
Anfang 2025 liegen drei EU-Volkswirtschaften klar über der 100 %-Marke: Griechenland, Italien und Frankreich. Die Vereinigten Staaten befinden sich in einer ähnlichen Lage, mit einer Staatsverschuldung von etwa 120 % des BIP. Auf dem Papier gehört Washington damit zur gleichen Gruppe wie die am stärksten verschuldeten EU-Länder.
Wenn die Quoten vergleichbar sind, stellt sich eine einfache Frage: Warum glauben viele Experten, dass die USA deutlich höhere Schulden tragen können, bevor die Märkte nervös werden? Und gilt das noch immer?
Dieser Artikel erklärt die wichtigsten Unterschiede, die für Investoren und politische Entscheidungsträger entscheidend sind – ohne in die Falle einer „magischen“ Grenze zu tappen.
Der Dollar-Vorteil: Warum die USA mehr Spielraum haben
Der wichtigste Unterschied ist struktureller Natur. Die USA geben Schulden in ihrer eigenen Währung aus – dem US-Dollar. Diese Währung bleibt das dominierende Zahlungsmittel für den Welthandel, Rohstoffe und Zentralbankreserven. Solange die Welt Dollar benötigt, besteht eine konstante Nachfrage nach US-Staatsanleihen.
Diese Nachfrage verschafft den Vereinigten Staaten zwei Vorteile: Sie können länger größere Defizite fahren, ohne sofort eine Finanzierungskrise auszulösen, und sie können im Notfall ihre Zentralbank einsetzen, um die Märkte zu stabilisieren. Das Hauptrisiko für die USA ist Inflation, nicht der technische Zahlungsausfall.
Die meisten EU-Länder haben diesen Vorteil nicht. Sie leihen in einer Währung, die sie nicht allein kontrollieren. Dieser Unterschied wird spürbar, wenn Stress aufkommt.
Europas Schwäche: Eine Währung, viele Regierungen
Mitglieder der Eurozone teilen sich eine Währung, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik. Athen, Rom und Paris können nicht einfach Euro drucken. Während der Eurokrise wurde diese Schwäche deutlich: Steigende Renditen spiegelten nicht nur Wirtschaftsdaten wider, sondern auch die Angst vor einem Austritt einzelner Länder oder einer Refinanzierungskrise.
Seither hat die Europäische Zentralbank ihre Instrumente erweitert, um irrationale Marktschwankungen zu verhindern. Anleihekaufprogramme und neue Mechanismen sollen extreme Spreads begrenzen. Trotzdem wissen Investoren, dass jedes Land für seine eigenen Schulden verantwortlich bleibt – ohne eine echte Fiskalunion im Hintergrund. Das Risikoprofil unterscheidet sich klar von einem föderalen Emittenten wie dem US-Finanzministerium.
Wachstum, Demografie und die Mathematik tragfähiger Schulden
Ob Schulden nachhaltig sind, hängt vom Zusammenspiel dreier Faktoren ab:
- dem Zinssatz, den ein Land für seine Schulden zahlt,
- dem nominalen Wirtschaftswachstum,
- und dem Primärsaldo des Haushalts, ohne Zinskosten.
Wenn das Wachstum stärker ist als der durchschnittliche Zinssatz, kann ein Land hohe Schulden stabilisieren oder abbauen, ohne drastische Einschnitte. Ist das Wachstum schwach und die Zinsen steigen, wird selbst eine scheinbar stabile Schuldenquote riskant.
Die USA profitieren von einer größeren, dynamischeren und jüngeren Wirtschaft. Innovation, Produktivität und Demografie stützen ihr Potenzial. Viele EU-Länder dagegen altern, wachsen langsamer und haben steigende Sozialausgaben – jede zusätzliche Schuldeneinheit wird empfindlicher.
Die Märkte überdenken alte Annahmen
Lange Zeit galt: US-Schulden sind sicher, Europa ist anfällig. Heute ist das Bild differenzierter. Einige hochverschuldete Euroländer haben ihre Laufzeiten verlängert, Primärsalden verbessert und Reformen umgesetzt. Die EU hat gemeinsame Instrumente und klarere Regeln geschaffen, was eine Auflösung unwahrscheinlicher macht als 2012.
Gleichzeitig beobachten Investoren die US-Politik mit wachsender Sorge. Dauerhafte Defizite in guten Zeiten, politische Blockaden und fehlende langfristige Planung haben eine Risikoprämie auf US-Staatsanleihen gebracht. Inzwischen liegen die langfristigen US-Renditen über denen mehrerer hochverschuldeter Euroländer – ein Zeichen, dass die Ära der automatischen US-Ausnahme vorbei ist.
Keine magische Zahl, sondern länderspezifische Realität
Frühere Debatten suchten nach einer universellen Schwelle: 90 %, 100 %, 120 % des BIP. Die Forschung zeigt: Eine feste Grenze gibt es nicht. Entscheidend sind Richtung, Glaubwürdigkeit und institutionelle Stabilität.
Ein Land mit hoher Verschuldung, aber klarer Strategie und Reformwillen, kann sicherer sein als eines mit geringerer Verschuldung und politischer Lähmung. Die jüngsten Aufwertungen Griechenlands und Italiens und Warnungen für andere Länder bestätigen das.
Was das für Europa bedeutet
Für Europa lautet die Botschaft: Ohne stärkeres Wachstum, demografische Reformen und gezielte Investitionen werden hohe Schulden die politische Handlungsfreiheit einschränken. Verteidigung, Klima, Alterung und Industriepolitik kosten Geld. Das neue EU-Fiskalrahmenwerk erkennt das an und verknüpft Schuldenabbau mit Reformen statt mit starren Regeln.
Beispiele wie Griechenland zeigen, dass hohe Schulden nicht tödlich sein müssen – gefährlich werden sie erst, wenn die Politik den Glauben an eine realistische Zukunft verliert.
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